Er kämpfte gegen Hitler und Europas Faschisten, versöhnte Ost und West, setzte Industrie- und Entwicklungsländer an einen Tisch. Willy Brandt hatte eine Vision: die einer gerechteren Welt.
Am 7. Dezember 1970 bricht Willy Brandt nach Polen auf. Er will einen Vertrag über gegenseitigen Gewaltverzicht und die Anerkennung der Nachkriegsgrenzen unterschreiben. Es ist kein leichter Weg, den er da beschreitet, 25 Jahre nach Kriegsende. Als erster deutscher Bundeskanzler wird Brandt dieses Land betreten, das von Deutschland brutal überfallen und besetzt worden war. Warschau, die Stadt, in der Nationalsozialisten hunderttausende Juden im Ghetto zusammengepfercht, in Konzentrationslager deportiert und ermordet haben, und die völlig zerstört wurde. Er weiß, es bedarf einer besonderen Geste, um die Polen um Versöhnung zu bitten. Und er wird sie genau im richtigen Moment finden.
Als er am „Denkmal der Helden des Ghettos“ einen Kranz niederlegt, neigt Brandt nicht allein das Haupt vor den Opfern. Er sinkt auf die Knie. Und verharrt mehr als eine Minute in Gedenken. Unter den Anwesenden ist es totenstill. Allein das Klicken der Kameras ist zu hören.
Die Bilder des „Kniefalls von Warschau“ gehen um die Welt. Und gehören heute zu den wohl bekanntesten Momenten deutscher Geschichte. „Er, der sein Leben lang gegen Hitler gekämpft hatte, nahm die Last – nicht die Schuld – der Vergangenheit auf seine Schultern“, erinnert sich Alfred Grosser. Auch für ihn, der 1933 als Kind jüdischer Eltern von Frankfurt am Main vor den Nazis nach Frankreich fliehen musste, ist dies „ein großer Moment“, der bis heute von Bedeutung ist.
In Deutschland – und auch in Polen – wird der deutsche Bundeskanzler für diese Geste der Demut von Einigen scharf kritisiert, ja verachtet. Eines aber ist der Welt klar: Willy Brandt verkörpert ein anderes, ein friedliches Deutschland. Ein Jahr darauf erhält Brandt in Oslo den Friedensnobelpreis.
Ein Kind des 20. Jahrhunderts
Geboren wird er am 18. Dezember 1913 als Herbert Ernst Karl Frahm in Lübeck. Sein Großvater bringt ihn früh in Kontakt mit der SPD, später zieht es ihn in die radikalere Sozialistische Arbeiterpartei (SAP), die gleich nach Hitlers Machtübernahme 1933 verboten wird. Unter dem Decknamen Willy Brandt kann er im Frühjahr desselben Jahres nach Norwegen fliehen. Dort kämpft er nicht allein gegen das Hitler-Regime, sondern gegen alle faschistischen Herrscher Europas, agiert auch im spanischen Bürgerkrieg.
1947 kehrt Brandt nach Deutschland zurück und muss sich dort Zeit seines Lebens Vorwürfe wie diesen anhören: „Eines wird man Herrn Brandt doch fragen dürfen, was haben Sie zwölf Jahre lang draußen gemacht?“, versucht Franz-Josef Strauss ihn als Vaterlandsverräter darzustellen. ‚“Wir wissen, was wir drinnen gemacht haben.“ Für den französischen Politikwissenschaftler Alfred Grosser ist es unglaublich, wie sehr Brandt in Deutschland damals angefeindet wurde: „Bei uns behalten die Widerstandskämpfer ihre Untergrundnamen. Das ist etwas sehr schönes und ehrenwertes.“
Trotz der vielen Anfeindungen schafft Brandt es 1957 Bürgermeister Berlins zu werden. Eine Position, die zur Zeit des Viermächtestatus viel diplomatisches Geschick erfordert und Aufmerksamkeit bringt. Nicht nur als sich Kennedy 1963 neben ihm „ein Berliner“ nennt. 1966 wird Brandt Außenminister und schließlich, 1969, Kanzler der Bundesrepublik. Er erlebt politische Tiefpunkte, wie ihm beim Bau der Berliner Mauer die Hände gebunden sind. Und erreicht Erfolge mit seiner „Politik der kleinen Schritte“ auf dem Weg der Annäherung zwischen Ost und West. Stets bewegt er sich dabei auf dünnem Eis und gerät oft selbst zwischen die Fronten. Und doch: Als 1989 die Mauer fällt, ist dies auch ihm zu verdanken. Eine Biographie, wie sie nur das 20. Jahrhundert schreiben konnte.
Von Ost-West nach Nord-Süd
„Willy Brandt stand über nationaler Identität, Rasse oder Religion. Er war im wahrsten Sinne des Wortes ein Weltbürger“, sagt Sir Shridat Ramphal.“Er glaubte daran, dass seine Heimat die ganze Welt ist, und es seine Pflicht als Weltbürger sei, diese Welt zu einem besseren Ort zu machen.“ Ramphal – ebenfalls ein Weltbürger – ist in Guyana geboren, war langjähriger Generalsekretär des Commonwealth of Nations und Mitglied in etlichen internationalen Organisationen. Seit Ende der 70er Jahre arbeitete er eng mit Brandt zusammen. Was heute schon fast vergessen ist: Brandt bemühte sich nicht allein um eine Aussöhnung zwischen Ost und West, sondern auch im globalen Kontext zwischen Nord und Süd.
1977 will Weltbankpräsident Robert McNamara eine unabhängige Kommission für internationale Entwicklungsfragen ins Leben rufen. Sie soll das Eis brechen, das zu diesem Zeitpunkt in den Vereinten Nationen zwischen Industrieländern im Norden und Entwicklungsländern im Süden herrscht. Und wer könnte diese besser leiten als Willy Brandt, der bereits zwischen Ost und West vermittelt hatte, als nichts mehr weiterging?
Die Vision der einen Welt
„Er wurde von den Entwicklungsländern von Afrika bis Asien akzeptiert und bewundert. Brandt wurde vertraut“, weiß Ramphal, der selbst Mitglied der so genannten „Nord-Süd“ oder „Brandt“-Kommission war. Unter der Leitung des Elder Statesman Brandt versuchten hier Politiker und Wissenschaftler aus 18 Ländern von Großbritannien über Kuweit, Kolumbien, Indonesien bis Japan und Schweden einen gemeinsamen Weg zu einer faireren Weltordnung zu finden. Ramphal :“Natürlich gab es auch Momente, in denen es so aussah, als würden wir uns nie einigen, aber Brandt besaß die große Fähigkeit, beiden Seiten bewusst zu machen, dass es in ihrem eigenen Interesse ist, dass die Spaltung der Welt in arm und reich ein Ende findet.“
Die Kommission legt zwei Berichte vor – 1980 und 1982 – und fordert eine fairere Weltwirtschaftsordnung. Eines ist für Ramphal klar: Alle Forderungen der Brandt-Kommission sind noch heute von größter Relevanz: Abrüstung, Umweltfragen, Bevölkerungswachstum, Technologietransfer, Frauenrechte, Agrarprotektionismus. Heute regierten wieder viel zu stark nationale Interessen. „Wir brauchen Persönlichkeiten wie Willy Brandt.“ Denn auch wenn die Kommission aufgrund neuer weltpolitischer Konflikte keinen unmittelbaren Durchbruch erlangen konnte, so habe sie damals doch einen Prozess angestoßen und den Tonfall, wie zwischen Nord- und Süd verhandelt wird, nachhaltig verändert. „Brandts Verdienste in Europa waren groß. Dafür hat er zu Recht den Nobelpreis bekommen. Das, was er langfristig mit seiner Nord-Süd-Kommission erreicht hat, war ebenso bemerkenswert“, meint Ramphal. „Man kann den Nobelpreis nicht zwei Mal gewinnen, aber er hätte es verdient.“