Einnahmezuwächse bei den Steuern sind außerhalb wirtschaftlicher Krisenphasen eine Selbstverständlichkeit. 54 von 63 Jahren der bundesdeutschen Steuergeschichte waren „Rekordjahre“, in denen mehr eingenommen wurde als je zuvor in der bundesdeutschen Geschichte.
Das zeigt eine Auswertung des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (=IMK) in der Hans-Böckler-Stiftung. Diesen Zusammenhang zu vernachlässigen, täuscht darüber hinweg, dass der Staat in Deutschland nur sehr geringe finanzielle Spielräume hat. Das geht zu Lasten dringend notwendiger Investitionen, so das IMK.Gut 620 Milliarden Euro sollten Bund, Länder und Gemeinden nach der Steuerschätzung vom vergangenen November 2013 an Steuern einnehmen.
Für den Bund hat das Finanzministerium die Prognose in seinem vorläufigen Haushaltsabschluss gestern bestätigt. Die 620 Milliarden wären, wie viele Medien berichtet haben, ein „historischer Höchststand“. Doch solche Rekord-Meldungen führen in die Irre, denn bei normaler wirtschaftlicher Entwicklung sind Einnahmezuwächse schlicht eine Selbstverständlichkeit. Darauf weisen Dr. Katja Rietzler und Prof. Dr. Achim Truger hin, Steuerexpertin des IMK und Wirtschaftsprofessor in Berlin. Die beiden Autoren der IMK-Steuerschätzung warnen vielmehr vor einer dauerhaften strukturellen Unterfinanzierung des Staates. Wesentlicher Grund dafür: Die deutlichen Steuersenkungen seit Ende der 1990er-Jahre.
Die Wissenschaftler verdeutlichen den Zusammenhang mit Daten aus der bundesdeutschen Steuergeschichte seit 1951. In den allermeisten Jahren entwickelten sich die Steuereinnahmen im Einklang mit dem nominalen Bruttoinlandsprodukt. Die Wirtschaft wuchs, und das spülte auch mehr Geld in die Kasse des Staates. In 58 von 63 Jahren bis 2013 lagen die Einnahmen deshalb höher als in den zwölf Monaten zuvor. Und gleich 54 können sogar als „Rekordjahre“ gelten. Westdeutschland hatte seit 1950 40 Jahre lang ausschließlich „Rekordeinnahmen“ aufzuweisen.
Aussagekräftiger als die langfristige Normalentwicklung sind für die Forscher daher die Ausnahmezeiträume. Und die häuften sich zuletzt: Alle fünf Jahre, in denen die Einnahmen zurückgingen, lagen zwischen 1996 und 2009, drei davon nach der Jahrtausendwende. Rietzler und Truger erklären diese Häufung durch die Kombination aus wirtschaftlichen Schwächephasen und den kräftigen Steuersenkungen, die seit 1999 vor allem die Bezieher höherer Einkommen, Unternehmen und Vermögende entlastet haben. Wenn 2013 noch die Steuergesetze von 1998 gegolten hätten, wären die Staatseinnahmen allein im vergangenen Jahr um 45 Milliarden Euro höher ausgefallen, hat Truger errechnet. „Die Steuersenkungen haben die staatliche Finanzierungsbasis stark geschwächt“, sagt Rietzler. „Obwohl sich die deutschen Staatsausgaben im internationalen Vergleich sehr moderat entwickelt haben, reichen die Mittel nicht.“
Das geht nach Analysen des IMK und anderer Institute vor allem zu Lasten der Investitionen. Seit 2003 übersteigen die Abschreibungen auf den staatlichen Kapitalstock die Bruttoinvestitionen, die öffentliche Infrastruktur verfällt -insgesamt war ein Nettokapitalverzehr von 31 Milliarden Euro festzustellen. Die von der Großen Koalition beschlossenen zusätzlichen Mittel für Investitionen – knapp 12 Milliarden Euro in vier Jahren – reichen daher nach Einschätzung des IMK längst nicht aus, um den Rückstand aufzuholen.
Und selbst die im Koalitionsvertrag geplanten Reformvorhaben stoßen schnell an die Grenzen des engen Einnahmekorsetts, wenn sie allein durch Umschichtungen und erhoffte Steuermehreinnahmen finanziert werden sollen, so das IMK: Das beginne schon bei den 23 Milliarden Euro für alle so genannten „prioritären Maßnahmen der Legislaturperiode“ – neben Investitionen sind das unter anderem eine finanzielle Entlastung der Kommunen und zusätzliche Forschungsausgaben. Hinzu kommen erhöhte Rentenleistungen wie die Mütterrente. Diese sind nach Analyse des IMK als gesamtgesellschaftliche Aufgaben ebenfalls vom Bund aus Steuermitteln zu finanzieren und nicht aus den Beitragseinnahmen der Rentenversicherung.
Die aktuelle Steuerschätzung vom November veranschlagt die Steuereinnahmen des Bundes in den kommenden Jahren um rund 5 Milliarden Euro niedriger als die Mittelfristige Finanzplanung des Finanzministeriums vom Sommer. „Diese Entwicklung zeigt, wie riskant es ist, einfach auf Steuermehreinnahmen zu hoffen“, sagt Rietzler. Als bessere Alternative befürwortet das IMK gezielte Steuererhöhungen bei hohen Einkommen und Vermögen. Diese kämen auch Ländern und Kommunen zugute. Da rund die Hälfte der staatlichen Investitionen von Städten und Gemeinden getätigt werden, könnte Deutschland so auch seine öffentliche Infrastruktur modernisieren.
Weitere Informationen / Kontakt: Prof. Dr. Gustav A. Horn, Wissenschaftlicher Direktor IMK, Dr. Katja Rietzler, IMK-Expertin für Finanzpolitik
Quelle: www.boeckler.de