Der deutsche Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki ist im Alter von 93 Jahren verstorben. Der Holocaust-Überlebende wurde berühmt durch lebhafte Debatten im Fernsehen und scharfe Kritik an deutscher Gegenwartskultur.
Ihm wurde oft der Beiname „Der Literaturpapst“ gegeben. Er selbst mochte das nicht, denn unfehlbar wollte Marcel Reich-Ranicki nicht sein, wohl aber eine Autorität. Marcel Reich-Ranicki kam am 2. Juni 1920 in Wloclawek/Polen zur Welt. Der Vater war Kaufmann und Fabrikbesitzer. Nach dem Konkurs der Fabrik ging die jüdische Familie nach Berlin. In der Schule hatte er es schwer, weil sein Deutsch zunächst nicht perfekt war. „Ich war in der Schule ein Außenseiter“, erinnerte er sich. „Ich hatte nie eine Heimat, meine Heimat war in den 30er Jahren das Dritte Reich, ich war bis Ende 1938 in Berlin. Da entstand eine Heimat für mich, das war die Literatur.“
Polnisches Ehepaar rettete ihn vor dem Tod
Nach dem Abitur hätte er gerne deutsche Literatur studiert, doch die Nazis wiesen ihn aus. Ab 1940 lebte er im Warschauer Ghetto. Seine Eltern und sein Bruder wurden durch die Nazis ermordet. Im Ghetto lernte er seine Ehefrau Teofila kennen. Die beiden heirateten. Eine Ehe, die ein Leben lang – bis zum Tod seiner Frau 2011 – hielt. Über seine Rettung aus dem Warschauer Ghetto sagte Marcel Reich-Ranicki einmal: „Ich habe Menschen kennengelernt, die sich mir gegenüber wunderbar verhalten haben. Schließlich hat ein polnisches Ehepaar mich und meine Frau gerettet.“
Nach dem Krieg war Reich-Ranicki polnischer Konsul in London. Nach seiner Rückkehr wurde er aus der Kommunistischen Partei, in die er mehr aus Dankbarkeit denn Überzeugung eingetreten war, ausgeschlossen. Das war die endgültige Wende zur Literatur. Reich-Ranicki wurde schon in Polen einer der angesehensten Literaturkritiker. Sein Spezialgebiet war deutsche Literatur. Als er 1958 zu Studienzwecken in Deutschland war, kehrte er nicht mehr nach Polen zurück. „Meine Arbeit war damals so wie heute die Literatur, die deutsche Literatur“, sagte er 2001 rückblickend.
Seine Lieblinge waren die deutschen Klassiker
Seine Leidenschaft war die deutsche Literatur. Er hat zahlreiche Bücher über sie geschrieben, hat unzählige Werke herausgegeben oder kommentiert, der deutsche Buchhandel kennt unter seinem Namen über hundert Einträge. Seine Lieblinge waren die großen Klassiker: Goethe, Heine, Kleist, Fontane und Thomas Mann.
Aber auch an der Literatur seiner eigenen Zeit fand Marcel Reich-Ranicki Gefallen. Wenn auch nur mäßigen. Als Literaturkritiker der Wochenzeitung „Die Zeit“ und dann der Tageszeitung „FAZ“ war er ihr ständiger wachsamer Begleiter. Von den Anfängen der „Gruppe 47“ bis heute. Er war eine Art Übervater des Literaturbetriebs und wegen seines gelegentlich harschen und leidenschaftlichen Urteils geliebt und verhasst. Etwa mit seinem Verriss des Romans „Ein weites Feld“ von Günter Grass im Magazin „Der Spiegel“ im Jahr 1995 sorgte er für einen Literaturstreit. Heftige Debatten löste auch Martin Walsers Roman „Tod eines Kritikers“ (2002) aus, der als eine Abrechnung mit Reich-Ranicki verstanden wurde.
Mit dem „Literarischen Quartett“ feierte er große Erfolge: Bis zu zwei Millionen Zuschauer sahen sich diese Fernseh-Talkshow über Literatur an, in der zwar vorhersehbar, aber immer lebhaft und spannend über Bücher gestritten wurde. Marcel Reich-Ranicki liebte Streit und Diskussion. Seine persönlichen Attacken gegen Kollegin Sigrid Löffler sorgten 2000 für einen Eklat und das Ausscheiden der Kritikerin aus der Sendung. „Im Falle Reich-Ranickis war das Fernsehen als Eitelkeitsmaschine seines Daseins Glück und Unglück“, schrieb Löffler 2002.
So sorgte er auch 2008 für großes Aufsehen, als er bei der Verleihung des Deutschen Fernsehpreises die Ehrung für sein Lebenswerk ablehnte. Er begründete die Ablehnung mit der schlechten Qualität des deutschen Fernsehens. Kritiker, zu denen auch Günter Grass gehörten, merkten an, dass er ohne das Medium nie so berühmt geworden wäre.
Den größten Erfolg erlebte er jedoch nicht als Herausgeber oder als Kritiker. „Ich habe einiges geschrieben, was ein Echo hatte“, sagte er. Aber seine Memoiren, die er 1999 publizierte, hatten eine noch größere Resonanz: „Ich habe ein Buch geschrieben über mein Leben. Ganz einfach, was ich erlebt habe.“ Im April 2009 wurde ein Spielfilm über sein Leben im Warschauer Ghetto ausgestrahlt, der auf der Autobiografie basierte. Reich-Ranicki: „Das Echo dieses Buches, das war eine große Überraschung.“