Analyse von Jan Priewe und Philipp Stachelsky / März 2015 / Analysen und Konzepte zur Wirtschafts- und Sozialpolitik / FES
Auf einen Blick Strukturreformen, eine exzessive Sparpolitik und interne Abwertung waren die Medizin, die die Troika aus Europäischer Zentralbank, EU-Kommission und Internationalem Währungsfonds Griechenland in den letzten Jahren verordnet hat. Diese Strategie ist im Falle Griechenlands nicht nur krachend gescheitert. Sie ist sogar der Hauptgrund für eine historisch einmalige ökonomische Katastrophe.
Seit dem Frühjahr 2010 ist der griechische Staat bei der Refinanzierung seiner Staatsschulden auf die Hilfe anderer öffentlicher Institutionen angewiesen, weil das Land an den Finanzmärkten nur zu extrem hohen Zinsen Kredite erhielt. Die öffentlichen Gläubiger knüpften ihre Hilfskredite jedoch an Bedingungen, die durch die Troika vorgegeben werden. Die Strategie der Geldgeber basierte auf folgender Diagnose:
Hauptursachen des griechischen Problems waren eine undisziplinierte Fiskalpolitik, zu hohe Löhne sowie der Mangel an Strukturreformen. Die Krise ist also vollständig „Made in Greece“. Der Ausweg besteht nach Auffassung der Troika darin, vorrangig Staatsausgaben zu kürzen und Steuern zu erhöhen, so einen Primärüberschuss im Staatshaushalt zu erzielen, mit dem Staatsschulden inklusive Zinsen zurückgezahlt werden sollen. Zugleich wird eine „interne Abwertung“ durch Lohn- und Preisdeflation zwecks Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit durchgesetzt, parallel dazu „Strukturreformen“.
Neben „Arbeitsmarktflexibilisierung“ zur Lohnsenkung geht es dabei um die Privatisierung von öffentlichem Eigentum, die Deregulierung von Gütermärkten und die Absenkung der Sozialleistungen – faktisch um das Schleifen des griechischen Sozialstaats.
Das Ergebnis dieser Strategie: Die griechische Wirtschaftsleistung ist zwischen 2008 und 2014 um rund 25 % kollabiert. Die Inlandsnachfrage brach preisbereinigt sogar um ein Drittel ein (2007-13), das sind 15 % mehr als in den anderen europäischen Krisenländern. Die Bruttoanlageinvestitionen schmolzen preisbereinigt um 65 % (2007-14), die Beschäftigung fiel um 20%.
Wie kommt es also, dass sich die Lage in Griechenland derart verheerend entwickelt hat, obwohl es doch die Strategie seiner Gläubiger zumindest sehr weitgehend umgesetzt hat? Wieso waren die Ergebnisse so viel schlechter als in den anderen Krisenländern?
Schock der Finanzkrise und exzessive Sparpolitik:
Vor der Finanzkrise lagen die griechische Schuldenquote bei 107 % (2007) und das Haushaltsdefizit bei 6,8 % – definitiv hohe Werte. Aber die Schuldenquote musste unter den damaligen Rahmenbedingungen keinesfalls in die Katastrophe führen. Erst im Zuge der globalen Wirtschaftskrise, die Griechenland mit exorbitant hohen Zinsen heimsuchte und zu sehr hohen Haushaltsdefiziten bis 2011 führte, stieg die Staatsverschuldung in extremere Dimensionen. Zwischen 2008 und 2011 wuchsen die Staatsschulden von 263 auf 355 Milliarden Euro. Jedoch liegt Anfang 2015 die griechische Schuldenquote bei 175 % – obwohl die nominale Staatsverschuldung nach 2011 (auch beeinflusst durch einen Forderungsverzicht privater Gläubiger 2012) auf 317 Milliarden Euro sank. Mithin kam die extrem gestiegene Schuldenquote hauptsächlich durch den beschriebenen massiven Rückgang des BIP zustande. Schuld war neben den plötzlich stark gestiegenen Zinsspreads die verordnete Überdosis Sparpolitik.
Die negative Multiplikator-Wirkung der simultanen Kürzungen bei Staatsausgaben, Löhnen und Investitionen war immer größer als von den Planern angenommen. In kleinen, sehr offenen Volkswirtschaften wie Lettland, Irland oder auch Portugal sind die Staatsausgaben-Multiplikatoren viel geringer als in Griechenland, dessen Importquote mit ca. 30% relativ klein ist im Vergleich mit anderen Krisenländern (Irland 70 – 80 %). Wer Ausgaben im Inland kürzt, hat weniger Einnahmen im Inland; wenn dadurch Budgetdefizite nur wenig sinken, muss nach dieser Logik die Dosis der kontraproduktiven Medizin verstärkt werden.
„Interne Abwertung“ führt nicht zu steigenden Exporten. In einer Währungsunion sind preisliche Anpassungen über Wechselkursänderungen nicht mehr möglich. Daher sollte Griechenland seine preisliche Wettbewerbsfähigkeit mittels „interner Abwertung“ wieder herstellen. Die Reallöhne fielen um ca. 18 % (2009 -14), die Lohnstückkosten um ca. 10% gegenüber 2010 – wesentlich stärker als in allen anderen europäischen Krisenländern.
Trotz dieser Lohnsenkung gingen die Preise kaum zurück, außer um jeweils knapp 1% 2013 und 2014 – eine Lohndeflation ohne Preisdeflation. Ohnehin haben die anderen Eurostaaten ebenfalls gemessen am BIP-Rückgang und dessen Dauer tatsächlich eine der schwersten Krisen, die je ein Land seit Beginn des 20. Jahrhunderts hat hinnehmen müssen.
Dieser katastrophale Rückgang hielt sechs Jahre an, länger als alle anderen Wirtschaftskrisen – und ob das leichte Wachstum 2014 mehr als ein Strohfeuer war, ist nach den Turbulenzen der letzten Monate keinesfalls ausgemacht.
In den laufenden Verhandlungen wird Griechenland seitens der Gläubiger oft unterstellt, Reformen zu verschleppen. Damit wird impliziert, dass in dem Land schon alles in Ordnung käme, wenn die Griechen nur ihre „Hausaufgaben“ machen würden – eine mehr als nur gewagte These, denn schließlich hat kein anderes OECD-Mitglied in den letzten Jahren mehr der geforderten Reformen umgesetzt als Griechenland. Der Reformeifer der griechischen Regierungen zeigte sich insbesondere in der Haushaltspolitik. Die Staatsausgaben wurden (preisbereinigt) um 30% geschrumpft (2009 -2013) – dies entspräche in Deutschland einer Streichung des kompletten Bundeshaushalts; die Einnahmequote stieg um 7% von 40 auf 47 % des BIP – eine derartige Austeritätspolitik hat es in Europa bislang nicht gegeben, vermutlich auch weltweit nicht.
Im Gegensatz zu den anderen Euro-Krisenländern stiegen die Exporte nicht, sie sanken bis 2014 nur ganz leicht gegenüber ihrem Maximum im Jahr 2008. Dagegen fielen die Importe dramatisch, komprimiert durch die sinkende Inlandsnachfrage. So verbesserte sich die Handelsbilanz deutlich. Es gibt aber keinen plausiblen Grund, warum sich das alte Handelsbilanzdefizit nicht wieder ausweiten sollte, wenn das griechische Wachstum und mit ihm die Importe wieder anspringen.
Hier zeigt sich ein deutlicher Unterschied zwischen Griechenland und den anderen Krisenländern, insbesondere Irland. Deren günstigere Performanz kam größtenteils durch die positive Veränderung des Außenhandelssaldos zustande. Irland ist ein notorisches Überschussland, mit Handelsbilanzüberschüssen bis zu 20 % des BIP und einer Exportquote von über 100 %. So wurde der starke Rückgang der Inlandsnachfrage durch Exportüberschüsse kompensiert, so dass das Land ab Mitte 2013 wieder ins Wachsen kam. Dagegen ist die interne Abwertung in Griechenland faktisch gescheitert.
Primärüberschüsse fließen ins Ausland. Wie erwähnt war die Sparpolitik in Griechenland exzessiv – und soll es nach dem Willen der Gläubiger auch weiterhin sein. Kein Land außer Irland hat den Primärsaldo im Budget um gut 10% in nur fünf Jahren erhöht (2009 -14). Laut der Troika-Strategie soll der griechische Primärüberschuss schon 2016 auf 4,5 % des BIP steigen.
Die Abmilderung dieser Überschüsse ist eines der Hauptziele der neuen griechischen Regierung. Sie verlangt „Luft zum Atmen“. Ihr wird entgegengehalten, dass auch andere Länder Zinsen und Tilgung in Höhe des vorgeschriebenen Primärüberschusses von 4,5 % des BIP tragen können, wie z. B. Italien. Auch wenn es stimmt, dass die faktische Zinslast Griechenlands nur etwa 2,5% des BIP ausmacht und damit geringer ist als die anderer Länder, hinkt der Vergleich aus zwei Gründen.
Erstens: Griechenland hat durch große Sparanstrengungen, weit größer als in Italien, einen kleinen positiven Primärüberschuss im Jahr 2014 erreicht – wenn jetzt weitere ca. 4% bis 2016 erreicht werden sollen, geht dies nur durch weitere Sparexzesse oder durch starkes Wachstum des BIP – und das ist nicht in Sicht.
Zweitens: Griechenland ist zu ca. 85% im Ausland verschuldet, Italien nur zu rund 30 %. Griechenland würde dann 4,5 % seines Einkommens und seiner Produktion dem inländischen Kreislauf entziehen, also auch der Besteuerung. Dies bremst das Wachstum wie Bleisohlen unter Sprintschuhen. Was ist mit dem wichtigsten Hoffnungsträger der Troika, den „Strukturreformen“? Angenommen, es gäbe Hoffnung auf einen kräftigen Aufschwung durch wirkliche Strukturreformen. Was immer man darunter versteht, sie brauchen Zeit. Daher entsteht eine Fristendiskrepanz. In puncto Steuerreform scheint die neue Regierung stärker engagiert zu sein als die alte. Stagnierendes oder sehr schwaches Wachstum würde die sozialen und finanziellen Probleme in den nächsten Jahren verschlimmern. Das vom IWF unterstellte jährliche Wachstum des BIP um durchschnittlich 3,3 % 2015 – 2020 ist reichlich unrealistisch. Es wird aber gebraucht, um den Schuldenstand Anfang der 2020er Jahre auf 120% zurückzuführen.
Ohne Zweifel: In Griechenland gibt es seit Jahrzehnten mehr als in den meisten anderen Eurostaaten einen ausgeprägten Klientelismus, einen sklerotischen Staatsapparat und viele einflussreiche Oligarchen; es gibt monopolistische Verkrustungen, eine laxe Ausgabenpolitik und eine ineffiziente und ungerechte Steuerpolitik. All dies hat zu der schwierigen Ausgangslage bis 2007/08 beigetragen – aber der entscheidende Schlag kam durch den Schock der globalen Finanzkrise und die falsche wirtschaftspolitische Reaktion. Die Finanzkrise führte, leicht verzögert, zu extrem hohen Zinsen, die Fiskalpolitik zu extrem restriktiver Ausrichtung – die Wirkungen waren also doppelt prozyklisch.
Die Austeritätsstrategie ist in Griechenland nicht nur gescheitert. Sie ist vielmehr der Hauptgrund für die desaströse Entwicklung des Landes seit 2010. Anstatt einen Heilungsprozess in Gang zu setzen, haben die Chefärzte von EU-Kommission, EZB und IWF den Gesundheitszustand eines bereits seit Jahrzehnten schwachen Patienten mittels eines historisch einmaligen Experiments drastisch verschlimmert.
Die Regierungen der übrigen Eurostaaten, die in der von Deutschland dominierten Eurogruppe weiteren Finanzhilfen für Griechenland zustimmen müssen, verweigern sich jedoch weiterhin der ökonomischen und sozialen Realität. Sie wollen – offenbar aus politischen Gründen mit Blick auf andere Krisenländer – keine nennenswerte Kursänderung, insbesondere nicht beim Primärüberschuss. Dabei wäre es zentral, endlich die Unsicherheit über den Verbleib Griechenlands in der Eurozone zu nehmen.
Die Probleme in Griechenland sind gewaltig, aber sie sind (noch) nicht unlösbar. Eine weitere Politik der kleinen Schritte, wie sie die bisherige Rettungspolitik kennzeichnet, sollte abgelöst werden durch eine Konstruktion, die über Jahre hinweg Bestand haben kann und Griechenland eine Perspektive aus der Krise bietet. Griechenland braucht eine realistische Wachstumskonzeption, und zwar sofort.
Kurzfristig ist es am wichtigsten, dass die EZB die normale Bankenrefinanzierung wieder zulässt; ferner die Wiederbelebung der Investitionen, sowohl der öffentlichen wie der privaten. Dazu bedarf es aber angesichts der schwierigen Haushaltslage der Unterstützung der Gläubiger und der EU als Ganzer.
Für die Ankurbelung von Wachstum und Beschäftigung kommt der griechische Staat ohne zusätzliches Geld nicht aus. Daher sollte das unrealistische Ziel von Primärüberschüssen im Bereich von 4,5% ab 2016 aufgegeben werden. Unbedingt gestoppt werden muss auch die für die Inlandsnachfrage kontraproduktive weitere Absenkung des Lohnniveaus.
Der von den Geldgebern derzeit verlangte Primärüberschuss impliziert eine Schuldentilgung von ca.2% des BIP jährlich, damit der Schuldenstand bis Ende des Jahrzehnts von 175 % auf ca. 130% oder darunter zurückgehen kann. Dies funktioniert nur bei hohem nominalem Wachstum. Vielmehr sollte Schuldentilgung erst später kommen, wenn das Wachstum in Schwung ist. Dadurch könnte das Budget produktiv im Inland verwendet werden, insbesondere für Investitionen. Sinnvoll wäre auch eine Art „Quasi-Schuldenschnitt“, etwa die Gewährleistung eines (noch) niedrigeren Nominalzinses über längere Perioden und eine weitere Verlängerung der Laufzeit der Kredite.
Eine solche Restrukturierung würde Griechenland zumindest etwas Raum geben und gleichzeitig die Gläubiger nur in einem überschaubaren Umfang belasten. Außerdem sollte der Mittelweg aus hartem Schuldenschnitt und „Business as usual“ auch politisch für alle Seiten vertretbar sein. Ein harter Schuldenschnitt wäre für die übrigen Eurostaaten ein politischer Drahtseilakt, für die anderen Hauptgläubiger EZB und IWF rechtlich sehr problematisch.
Zu Unrecht wird gesagt, die Gläubiger sitzen immer am längeren Hebel: denn wenn der Schuldner nur noch schuldendienstfähig ist, weil er in Massenarmut getrieben wird, steht viel Geld der Gläubiger im Feuer. Diese sollten der Kuh, die sie melken wollen, auch ausreichend Futter geben.
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Quelle: www.fes.de