Erinnerung an den Aufstand

Am 19. April 1943 begann der erste Aufstand gegen das NS-Regime. Im Warschauer Ghetto leisteten Hunderte Juden Widerstand gegen die SS. Zum 70. Jahrestag eröffnet das Museum der Geschichte der Polnischen Juden.

Sie war gerade mal elf Jahre alt, als sie Zeugin des Aufstandes im Warschauer Ghetto wurde. Krystyna Budnicka sah die Kämpfe nicht mit ihren Augen, aber sie spürte sie am eigenen Leib. „Oben hat alles gebrannt, deshalb war die Erde im Bunker so heiß geworden, dass wir stets in die Abwasserkanäle fliehen mussten, um uns abzukühlen“, erzählt sie. Tagelang liefen wir hin und her, durch den kleinen Tunnel in dem dreckigen Kanal, in dem irgendwann die Leichen angeschwommen kamen“, sagt Budnicka. „Als die Deutschen merkten, dass die Kanäle als Fluchtwege genutzt wurden, schossen sie, wenn Köpfe aus den Gullys herausschauten.“

Krystyna Budnicka wurde als Hena Kuczer geboren und war das jüngste von acht Kindern. Ihre beiden ältesten Brüder wurden 1942 bei den großen Deportationen in die Gaskammer nach Treblinka transportiert. Ihr Vater, der Schreiner war, beschloss, nicht weiter tatenlos zuzusehen. „Zusammen mit den verbliebenen Söhnen begann er, einen Bunker unter dem Keller unseres Hauses zu bauen“, erzählt die heute 81-Jährige. Dort versteckte sich die Familie Anfang 1943. Der Bunker war durch einen Tunnel mit der Kanalisation verbunden, verfügte zunächst auch über einen Wasser- und Stromanschluss. Die Familie hoffte, eines Tages durch die Kanäle fliehen zu können.

Ein Kampf um Menschenwürde

Budnicka hatte sechs Brüder. Als zwei von ihnen deportiert wurden, kümmerten sich die übrigen Söhne um die Familie. Oft gingen sie aus dem Bunker nach draußen, unterstützten den Aufstand und besorgten etwas zu essen. Eines Tages kletterten zwei Brüder zum falschen Zeitpunkt aus dem Kanal: Sie wurden erschossen. Über die Aufständischen sagt Budnicka: „Sie kämpften weniger um ihr Leben als vielmehr um unser aller Würde. Die Deutschen wollten uns, den Juden, das Menschsein absprechen. Dieser Widerstand zeigte, dass es ihnen nicht gelang.“

Eingerichtet wurde das Warschauer Ghetto 1940 im jüdischen Viertel der Stadt. Vor der Deportationswelle in die Vernichtungslager 1942 lebten dort bis zu 400.000 Juden, danach verblieben nur noch etwa 60.000 Menschen in dem von Mauern umschlossenen Gebiet. Anfang 1943 befahl Heinrich Himmler die endgültige Auflösung des Ghettos. Bis dahin lehnten die meisten Juden bewaffneten Widerstand ab, auch aus religiösen Gründen. Doch als die letzten Massendeportationen beginnen sollten, entschieden sich Hunderte junge Juden zu kämpfen.

„Sie wollten selbst entscheiden, wie sie sterben“

Am 19. April 1943 trafen die anrollenden deutschen Einheiten auf unerwarteten Widerstand. Die jungen Menschen wussten um ihre Aussichtslosigkeit, denn ihnen fehlte es an Waffen, Essen und Unterstützung. Doch sie harrten drei Wochen aus, lieferten sich einen erbitterten Kampf. Als die Deutschen Anfang Mai den Bunker der Aufständischen umzingelten, begingen diese kollektiv Selbstmord. „Sie wollten selbst entscheiden, wie sie sterben“, sagt Zygmunt Stępiński, Direktor des neuen Museums der Geschichte der Polnischen Juden in Warschau. Er erklärt, dass ihr Tod ein politisches Manifest war. „Sie wollten zeigen, dass sich Juden wehren können und dass sie den ersten Aufstand gegen die Nazis überhaupt organisierten“, fügt Stępiński hinzu.

Auch Krystyna Budnicka sagt, dass der Kampf ein wichtiges Symbol für andere war. Anschließend leisteten Juden auch in mehreren kleineren Ghettos Widerstand.

Der ehemalige polnische Außenminister Władysław Bartoszewski nannte den Widerstand im Warschauer Ghetto einen „romantischen Aufstand“. Er, der selbst in Auschwitz inhaftiert war und Hilfe für Juden mitorganisierte, meint damit die verzweifelte Entschlossenheit der jungen Aufständischen. Aus ihm spricht höchster Respekt und Achtung, dass sie „lieber mit der Waffe in der Hand starben, als sich in die Vernichtungslager abtransportieren zu lassen“.

Eine Bilanz des Schreckens

Für die Niederschlagung des Aufstands war SS-Gruppenführer Jürgen Stroop verantwortlich. Im Mai 1943 meldete er, dass während des Aufstandes „56.065 Juden erfasst und nachweislich liquidiert wurden“. Nur wenige überlebten, wie die elfjährige Krystyna Budnicka. Neun Monate verbrachte sie mit ihrer Familie im Bunker. Im September 1943 organisierte ihr Bruder Rafał mit der polnischen Untergrundorganisation Zegota, die viele Juden vor der Vernichtung rettete, Hilfe für die Familie.

Zuerst flohen Krystyna und ihr jüngster Bruder aus dem Kanal, danach sollten die Eltern und eine Schwester folgen. Doch die Eltern waren zu erschöpft, um aus eigener Kraft aus ihrem Versteck herauszusteigen. Daher blieben sie einstweilen im Kanal, wollten später folgen. Ihre zweite Tochter entschied, bei den Eltern zu bleiben. Doch ein zweiter Rettungsversuch war nicht möglich. Sie starben in ihrem Versteck. Verschiedene polnische Familien versteckten bis Ende des Krieges die kleine Hena Kuczer. Von einer dieser Familien bekam sie den Namen Krystyna Budnicka. So heißt sie bis heute. Den Krieg hat sie als einzige ihrer zehnköpfigen Familie überlebt.

Polen und Juden – ein schwieriges Verhältnis

Bisland hat Krystyna Budnicka jedes Jahr am 19. April des Aufstands im Warschauer Ghetto mit einer kleinen Gruppe Menschen am Denkmal für die Helden des Aufstands gedacht. Sie zündete eine Kerze an, schließlich gibt es kein Grab, zu dem sie gehen könnte, um ihrer Familie zu gedenken. Jetzt jährt sich der Aufstand zum 70. Mal. Große Gedenkveranstaltungen sind geplant. Eigentlich mag Budnicka offizielle Feierlichkeiten nicht, aber die Aufmerksamkeit für die Ghettoopfer erfüllt sie mit Genugtuung.

Im kommunistischen Polen war für die Erinnerung an die jüdischen Opfer wenig Platz. Die Rolle der Juden in der polnischen Geschichte wurde tabuisiert, gar politisch instrumentalisiert. Auch deshalb schwieg selbst Budnicka jahrzehntelang. Heute ändert sich vieles, das polnisch-jüdische Verhältnis wird intensiver diskutiert denn je. Am Jahrestag des Aufstands werden Gäste aus dem In- und Ausland gemeinsam der Opfer gedenken. Am gleichen Tag wird auch das neue Museum der Geschichte der Polnischen Juden eröffnet. Es steht dem Denkmal der Helden des Aufstandes des Warschauer Ghettos direkt gegenüber, auf dem Gelände des früheren jüdischen Viertels. Da die Nazis das Ghetto nach dem Aufstand dem Erdboden gleich machten, erinnern dort kaum Überreste an diese Zeit. Nach Kriegsende entstand dort eine neue Arbeitersiedlung.

Die Erinnerung bleibt wach

Es ist kein Zufall, dass das Museum gerade jetzt entsteht. Es ist Ausdruck der neuen Zeit in Polen. Das Land setzt sich zunehmend offen mit der eigenen Geschichte auseinander. Das Museum wird die Geschichte der polnischen Juden erfahrbarer machen denn je. Auch kontroverse Fragen werden diskutiert, beispielsweise warum die jüdischen Aufständischen nicht mehr Unterstützung von außen erfuhren. Zwar wurden die Aufständischen mit Waffen versorgt, aber das reichte bei weitem nicht aus. Historiker wie Überlebende mahnen, sich die damalige Lage nicht allzu einfach vorzustellen.

Man dürfe auch die geleistete Hilfe nicht vergessen. „Ohne mutige Polen hätte ich nicht überlebt“, sagt Krystyna Budnicka und erinnert daran, dass die Unterstützung von Juden in Polen im Vergleich zu anderen besetzten Ländern Europas unter strengster Strafe stand: Nicht nur den Helfern drohte die Erschießung, sondern auch ihren Familien.

Budnicka ist erfreut, dass mitten im früheren jüdischen Viertel jetzt ein großes Museum eröffnet wird, das die Geschichte der polnischen Juden und auch des Warschauer Aufstands zeigt. „Hier geht es um mehr, als um den Holocaust“, sagt sie. „Es geht um viele Juden, die herausragende Polen waren und das Land seit tausend Jahren mitgeprägt haben.“

www.dw.de