100. Todestag von August Bebel – ein Kommentar

August Bebel, der große Arbeiterführer, ging immer mit der Überzeugung zu Bett, dass es bis zur Revolution nur noch wenige Tage dauert. Das ist passé, Bebel ist 100 Jahre tot. Nicht passé ist die Idee, dass aus einer erschreckend ungerechten Gesellschaft wieder ein Land der guten Nachbarn werden muss. Nur gelingt es der SPD und Steinbrück nicht, diese Idee mit Leben zu füllen.

In Joseph Roths Roman „Radetzkymarsch“, der vom Zerfall der Donaumonarchie handelt, gibt es eine zum Heulen ergreifende Szene: Da besucht der alte Bezirkshauptmann seinen sterbenden Diener; und der versucht, unter dem Bettlaken die Hacken zusammenzuschlagen. So ähnlich ist es heute, wenn an das Bett der maladen Sozialdemokratie ihre Geschichte tritt.

Das Jahr 2013 ist ein Gedenkjahr: Am 13. August 1913 starb SPD-Gründervater August Bebel, ein Drechsler, der zum Kaiser der Arbeiter avancierte. Sein Nachfolger wurde Friedrich Ebert, der spätere erste Reichspräsident der ersten deutschen Demokratie. Und am Ende dieses Schicksalsjahres 1913 wurde Willy Brandt geboren.Im tristen, von der Kanzlerin Angela Merkel entpolitisierten Bundestagswahlkampf 2013, in einem Wahlkampf, in dem die SPD darniederliegt, tritt also die Geschichte ans Krankenlager der alten Partei: Und die versucht, die Hacken noch einmal zusammenzuschlagen; aber es gelingt ihr kaum. Es ist fast so, als ob die Erinnerung an ihre stolze Zeit das Elend der SPD noch elender macht. Vom Zack der SPD – von ihrer Härte, ihrem Organisationsgeschick und ihrer Zukunftsgewissheit, die Bebel verkörpert hat – ist ein Zucken geblieben. Die SPD versucht, wieder auf die Beine zu kommen. Das war bisher der Inhalt des Wahlkampfs 2013.

Die Grundsatzlosigkeit von Angela Merkel

Otto von Bismarck, der Bebel mittels der Sozialistengesetze immer wieder ins Gefängnis brachte, hat 1847 an seine Braut geschrieben: „An Grundsätzen hält man nur fest, solange sie nicht auf die Probe gestellt werden; geschieht das, so wirft man sie fort wie der Bauer die Pantoffeln und läuft, wie einem die Beine von Natur gewachsen sind.“

Das erinnert einen an die CDU-Kanzlerin Angela Merkel von heute, die das nur nicht so farbig und so frei sagt wie Bismarck, die Grundsatzlosigkeit aber anschaulich praktiziert. Das erinnert einen auch an den sozialdemokratischen Kanzler Gerhard Schröder, dessen Politik die Verbindungen der SPD zu den Traditionen der Arbeiter- und Kleine-Leute-Partei gekappt und das Verhältnis zu den Gewerkschaften gelöst hat. Er hat in seiner Zeit an der Spitze der SPD die Produktion der alten sozialdemokratischen Bindemittel Solidarität und soziale Gerechtigkeit eingestellt. Die SPD hat sich davon noch nicht recht erholt.

August Bebel, des Deutschen Reiches Drechslermeister, tat in allem das Gegenteil zu den Bismarckschen Sätzen: Er hielt an seinen sozialistischen Grundsätzen so fest wie ein heiliger Missionar, er wurde verehrt deswegen: Er war einer der ihren, das erfüllte die Arbeiterschaft mit Stolz; er war ein charismatischer Künder einer Gesellschaft, in der alle gleich und versöhnt sein würden.

Willy Brandt hat das dann 1969 in seiner Regierungserklärung als Kanzler in die sozialdemokratische Moderne übersetzt: „Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein und werden, im Inneren und nach außen.“ Das ist der Satz, den Kanzlerkandidat Peer Steinbrück in seinen Reden oft zitiert. Aber der Satz verfängt diesmal nicht, schon deswegen nicht, weil Steinbrück ihn nicht ausbuchstabiert; weil er ihn nur außenpolitisch anwendet, auf Deutschland und seine Nachbarländer; weil es Steinbrück und der SPD nicht gelingt, in der leidenschaftlich-glaubwürdigen Klarheit eines Bebel zu erklären, dass aus einer deutschen Gesellschaft, in der die Ungleichheit erschreckend wächst, wieder ein Land der guten Nachbarn werden muss. Warum funktioniert das nicht? Steinbrück hat eine Steinbrück-Geschichte. Man nimmt bestimmten Personen bestimmte Bekenntnisse nicht so leicht ab, auch wenn sie rhetorisch noch so brillant sind.

Die SPD braucht eine Identität

Der SPD fehlt heute die Leidenschaft zum Gestalten. Das Schicksal teilt sie mit der CDU, die dieses Schicksal aber noch eher tragen kann, weil Programme dort noch nie die große Rolle spielten. Zu Bebels Zeiten haben die Sozialdemokraten gern theoretisiert, hatten viel Theoretisches gelesen und das Gelesene oft mit der Wirklichkeit verwechselt. Aber sie hatten ein gemeinsames Fundament an Überzeugungen.

Heute, so klagt der alte Erhard Eppler, haben die Sozialdemokraten wenig gelesen, oft nicht einmal das gültige Programm, und sie neigen dazu, ihre praktischen Sorgen ins Grundsätzliche zu übertragen. Der SPD fehlt heute das, was einst ihre Stärke war: ein alternatives gesellschaftspolitisches Fundament, eine Vision, eine Utopie. Sie braucht mehr als die Beteuerung, dass sie beim Regieren den anderen „einen Schritt voraus sein“ werde; geht es nicht auch um eine andere Richtung? Die SPD braucht eine Identität.

Gerhard Schröder hat der „sozialen Gerechtigkeit“, die nicht nur das Schlüsselwort der alten Sozialdemokratie, sondern das Zukunftswort der europäischen Gesellschaft ist, einen Mottenkugelgeruch verpasst – weil er auf das „einwandfreie Spiel der Marktkräfte“ vertraute, wie er es vor 15 Jahren im Schröder-Blair-Papier schrieb.

Nur noch wenige Tage bis zur Revolution

Der Mottenkugelgeruch hängt jetzt den Sozialdemokraten in den Kleidern. Mottenkugeln sind kein Antidepressivum, Utopien sind es – sagt Oskar Negt, einer der wenigen der SPD verbliebenen philosophischen Geister. Weil der SPD die alltagstaugliche Utopie fehlt, ist sie depressiv. Bebel ging jeden Tag mit der Überzeugung zu Bett, dass es bis zur Revolution nur noch wenige Tage dauern könne. Das ist passé. Nicht passé ist aber die Idee, dass die Bürgerinnen und Bürger einer Demokratie Ausbildung und Auskommen brauchen, um Bürgerinnen und Bürger sein zu können. Und die Idee, dass bestimmte elementare Güter im Gemeineigentum bleiben müssen (Wasser zum Beispiel), ist es auch nicht.

Man muss die große Geschichte der SPD nicht goldener malen, als sie ist. Gestritten haben die Linken auch ganz früher wie die Kesselflicker, noch viel mehr als heute; gespalten waren sie auch. Und die Billigung der Kriegskredite zu Beginn des Ersten Weltkriegs, ein Jahr nach Bebels Tod, gehört nicht zu den Sternstunden der Sozialdemokratie. Aber die SPD war seit 1880 die größte und beständig wachsende Partei im Reichstag, eine, die auf die Zahlenmacht der Arbeiterschaft bauen konnte. Dieses Glück ist vorbei. Und die heutige SPD hat bisher nicht geschafft, was ein Teil der Gewerkschaften, die IG Metall vor allem, jüngst geschafft hat: wieder Vertrauensbasis für eine verunsicherte Arbeiterschaft zu werden.

Die freie Entfaltung des Kapitals ist nicht Anliegen der bürgerlichen Freiheitsrechte: Das ist die allgemeine Erkenntnis aus der Finanzkrise der vergangenen Jahre. Die SPD hat es nicht vermocht, daraus politisches Kapital zu schlagen. Sie ist daher, hundert Jahre nach Bebel, nicht in Bebel-Laune. Aber die lange SPD-Geschichte hält gute Rezepte bereit: „Es rettet uns kein höheres Wesen / kein Gott, kein Kaiser und Tribun / Uns aus dem Elend zu erlösen / können nur wir selber tun!“

Quelle: www.sueddeutsche.de / Ein Kommentar von Heribert Prantl

Dieser Eintrag wurde veröffentlicht in News von Vivi. Setze ein Lesezeichen zum Permalink.