Die Wiedervereinigung Deutschlands am 3. Oktober 1990 brachte die Lösung eines Jahrhundertproblems: der deutschen Frage. Die hatte Europa seit der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation unter dem Druck Napoleons im Jahr 1806 immer wieder beschäftigt. Genau genommen ging es um drei Fragen.
-Wo liegt Deutschland, wo verlaufen seine Grenzen, was gehört dazu und was nicht?
-Wie steht es um das Verhältnis von Einheit und Freiheit, die große Doppelforderung der gescheiterten Revolution von 1848/49?
-Wie lässt sich ein einiges Deutschland mit der Sicherheit Europas vereinbaren?
Die Gebietsfrage ist seit dem 3. Oktober 1990 definitiv geklärt. Deutschland wurde in den Grenzen von 1945 wiedervereinigt, die Oder-Neiße-Grenze als deutsch-polnische Grenze für alle Zukunft verbindlich anerkannt, womit zugleich ein anderes Jahrhundertproblem, die polnische Frage, gelöst wurde.
Die Wiedervereinigung erfolgte in Frieden und Freiheit. Anders als in der ersten deutschen Demokratie, der Weimarer Republik, ist im wiedervereinigten Deutschland die demokratische Staatsform nicht mehr umstritten. Wie Bundespräsident Richard von Weizsäcker es in seiner Rede am 3. Oktober 1990 ausdrückte: „Der Tag ist gekommen, an dem zum ersten Mal in der Geschichte das ganze Deutschland seinen dauerhaften Platz im Kreis der westlichen Demokratien gefunden hat.“
Durch die Mitgliedschaft des wiedervereinigten Deutschland im Atlantischen Bündnis ist Deutschland auch kein Problem der europäischen Sicherheit mehr.
Zwei Seiten einer Medaille
Vielleicht konnte die deutsche Frage aber nur gelöst werden, indem die europäische Frage in gewisser Weise offen blieb. Die Regierung von Helmut Kohl hatte immer betont, dass die vereinbarte europäische Währungsunion und die Politische Union Europas zwei Seiten einer Medaille seien.
Um die deutsche Vereinigung nicht mit einem deutsch-französischen Zerwürfnis zu belasten, rückte Kohl auf das Drängen des französischen Staatspräsidenten François Mitterrand von diesem Junktim ab. Die Währungsunion wurde im Vertrag von Maastricht vorgezogen, die Politische Union im Wesentlichen vertagt.
Dabei ist es geblieben, und eben dies gilt seit dem Beginn der Weltschulden- und Finanzkrise im Jahr 2008 als Konstruktions- oder Gründungsfehler des Euro. Seine dauerhafte Stabilisierung wird nur gelingen, wenn wir es schaffen, die Haushalts-, Fiskal- und Wirtschaftspolitiken der Länder der Eurozone zu harmonisieren, also eine Fiskalunion und schließlich eine Politische Union zu bilden. Es bleibt mithin noch viel zu tun.
Von Heinrich August Winkler
Zur Person: Heinrich August Winkler, Jahrgang 1938, ist einer der renommiertesten deutschen Historiker. Er ist seit Herbst 1991 Professor für Neueste Geschichte an der Humboldt-Universität Berlin und seit 2007 im Ruhestand. 2005 wurde er mit dem Bundesverdienstkreuz erster Klasse ausgezeichnet. Winkler ist unter anderem Autor des Buches „Zerreißproben: Deutschland, Europa und der Westen, Interventionen 1990 – 2015“.
Quelle: www.tagesschau.de