Die Zeit drängt und die Debatte quält. Kommt der Grexit oder kommt er nicht, ist die derzeit alles beherrschende Frage zwischen Athen, Brüssel und Berlin. Die Unsicherheit über die Zukunft des Euroraums hat angesichts der wegweisenden Bedeutung der anstehenden Entscheidung bereits wirtschaftliche und politische Schäden in spürbarem Ausmaß verursacht.
So ist die Investitionsneigung jenseits der miserablen Lage in Griechenland im gesamten Euroraum gedrückt, was die Skepsis gegenüber der wirtschaftlichen Zukunft des Euro zeigt. Auch politisch wirkt der Euroraum nach außen mit der sich zerfasernden Parteienlandschaft und dem Aufstieg seiner fundamentalen Gegner alles andere als stabil.
Die Verhandlungen könnten an der Erschöpfung scheitern
Alles spricht also für eine schnelle Einigung, die auch langfristig trägt. Umso bedrückender ist es feststellen zu müssen, wie verhärtet die Fronten in der Öffentlichkeit erscheinen und wie intellektuell erschöpft die Verhandlungsführer wirken. Dies lässt befürchten, dass die Verhandlungen auch an dieser Erschöpfung scheitern könnten und es zu einem von niemandem gewünschten Grexit, einem Graccident, kommt. Dabei steht die Behauptung im Raum, die griechische Regierung verhalte sich nicht kooperativ und lehne alle sinnvollen Vorschläge ab, die die Lage verbessern könnten. Deshalb ist es dringend geboten, einen nüchternen Blick auf genau jene Vorschläge zu werfen, die die griechische Regierung unterbreitet, und sie kritisch auf ihre Tragfähigkeit zu prüfen.
Ein Kernpunkt der griechischen Forderung ist die nach einem geringeren Primärüberschuss, das ist der Haushaltsüberschuss ohne Berücksichtigung der Zinszahlungen für Altschulden, im griechischen Staatshaushalt.
Dass Griechenland einen solchen Primärüberschuss benötigt, um den bestehenden Schulden nicht noch neue hinzuzufügen, ist unstrittig. Die Frage ist nur, wie hoch dieser Überschuss sein sollte. Die griechische Regierung bietet 0,6 Prozent des BIP für 2015, die sich bis 2022 auf 3,5 Prozent erhöhen sollen. Gefordert wird ein Einstieg von einem Prozent. Diese Differenz ist der Rede nicht wert. Sie bedeutet nur, dass Griechenland nach Auffassung seiner Regierung etwas weniger einsparen sollte. Dies kann sich sogar als Vorteil erweisen. Wenn dadurch zum Beispiel keine Investitionsmittel gekürzt würden, würde das Wachstum um gut ein halbes Prozent höher als beim Vorschlag der Institutionen ausfallen, was gleichfalls zur Minderung der Schuldenlast beitragen würde. Warum also nicht auf den griechischen Vorschlag eingehen, die Regierung aber gleichzeitig darauf verpflichten, den größeren Spielraum für Investitionen zu verwenden?
Ähnlich ist die Lage im Hinblick auf eine Steuerreform. Beide Seiten sind sich einig, dass es einer solchen Reform bedarf. Sie sind sich sogar einig über deren Richtung: Der effektive Mehrwertsteuersatz soll erhöht werden. Der Streit geht um die soziale Differenzierung: Die griechische Regierung will den Mehrwertsteuersatz für einige Grundbedürfnisse bei niedrigen 6 Prozent festlegen, für andere Güter aber durchaus auf 23 Prozent erhöhen. Diese Gegensätze sind überbrückbar, wenn man es will. Zumal für die griechische Position spricht, dass die niedrigen Einkommen bisher besonders gelitten haben und jede weitere Steuererhöhung nur noch mehr Armut und weniger Nachfrage bedeutet.
Europäisierung des Schuldenproblems
Es gibt aber durchaus Konfliktfelder, auf denen eine Lösung schwieriger erscheint: Es geht um das Schuldenmanagement. Die griechische Regierung hält eine Verlagerung der Schulden vom IWF und der EZB auf den Europäischen Notfallfonds (ESM) für eine zentrale Voraussetzung künftigen Wachstums , die verbunden sein sollte mit einer Verlängerung der Rückzahlungsfristen, damit Investoren eine längere Perspektive ökonomischer Sicherheit haben. Im Ergebnis wäre dies eine Europäisierung des Schuldenproblems.
Dies kommt dem IWF entgegen, der aus Satzungsgründen und wegen des Vorwurfs, Europazentriert zu sein, sich gerne dieser Verpflichtungen entledigen würde. Es wäre zudem ein Schritt, der Griechenland aufgrund der längeren Fristen die notwendige Luft verschaffen würde, sich zu erholen. Würde man die Rückzahlung dann noch an das Wachstum koppeln, wäre ein langfristig tragfähiger Weg gefunden. Griechenland würde hohe Rückzahlungen leisten, wenn es stark wächst und geringe, wenn dies nicht der Fall ist. So gehen auch Banken mit ihren Schuldnern um, weil sie dann wissen, sie bekommen ihr Geld zurück. Diese Lösung hätte zwei sehr positive Nebenwirkungen.
Die Verlagerung der Schulden von der EZB auf den ESM würde ersterer die Möglichkeit geben, mit Blick auf die Gesamtlage zu entscheiden, griechische Staatsanleihen in ihr Ankaufprogramm aufzunehmen, von dem sie bisher ausgeschlossen sind. Dies und die langfristig tragfähige Schuldentilgung könnten wiederum private Anleger überzeugen, griechische Wertpapiere zu kaufen. Griechenland könnte sich fortan wieder am Finanzmarkt refinanzieren und wäre nicht mehr so stark auf öffentliche Geldgeber angewiesen. Das liegt auch im Interesse von Deutschlands Steuerzahlern.
In der antiken Tragödie gibt es keinen Ausweg
Bleiben noch die Konfliktfelder Rentenreformen, Arbeitsmarkt und Tarifautonomie. Eine Lösung muss langfristig angelegt sein und benötigt Vertrauen auf beiden Seiten; weitere ad-hoc-Kürzungen hätten dagegen schädliche Auswirkungen.
Vertrauen ist die entscheidende Voraussetzung dafür, dass es jetzt zu einer Einigung kommt, weil die griechischen Vorschläge als solche auch in Deutschland durchaus plausibel und vernünftig wirken. Aber man nimmt Athen nicht ab, dass es wirklich Reformen umsetzen will. Umgekehrt betrachtet die griechische Regierung die geforderten weiteren Einschnitte als Gift gegen eine rettende Wachstumspolitik. In diesem klassischen Dilemma braucht man beidseitig anerkannte Personen und Institutionen, die die Kluft des Misstrauens überbrücken können – wie Schlichter in einem Streik. Dazu könnte man die OECD mit ihrem Generalsekretär Angel Gurria oder die ILO einschalten und bitten, zusammen mit Griechenland Lösungsvorschläge zu entwickeln und zu begleiten. Dies entspräche auch einem Vorschlag aus Athen.
In der griechischen Tragödie der Antike gibt es keinen Ausweg, weil die handelnden Personen von einem unerbittlichen Schicksal gegeneinander gelenkt werden und deshalb untergehen müssen. Die EU kann sich einen solchen Fatalismus nicht leisten und sie muss es auch nicht. Denn inhaltlich ist eine Einigung nicht so schwer. Es kommt jetzt alles darauf an, gegenüber einer aufgeheizten öffentlichen Meinung kühlen Kopf zu bewahren und statt kurzfristiger Überbrückungen nachhaltige Lösungen zu schaffen.
Autoren: Reiner Hoffmann, Gustav Horn und Gesine Schwan
Reiner Hoffmann ist Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB), Gustav Horn ist wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung und Gesine Schwan ist Politikwissenschaftlerin.
Quelle: www.dgb.de